An der Kunstuni Linz fand vom 4.–5.5.2023 die Tagung “NS-Geschichte im Rinnstein – Comics als Medium der Erinnerung” statt.
Eingeladen haben dazu das des Co.Lab Erinnerungsarbeit · ästhetisch-politische Praktiken – mit Univ.-Prof. Dr.phil. Angela Koch und Univ.-Ass. Mag.art. MA Sabrina Kern – sowie der Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim – durch Mag. Simone Loistl und Florian Schwanninger.
Ich habe die Veranstaltung durch Zufall in eine insta-story entdeckt und mich angemeldet.
2 Tage durfte ich Comic-Forscher*innen, -Zeichner*innen, Historiker*innen und Gedenkstättenmitarbeiter*innen zuhören. Und weil dort viele Comics, Graphic Novels, Zeichner*innen und ein Filmprojekt besprochen wurden, möchte ich einiges davon hier mit euch teilen.
Diese Aufzählung ist nicht vollständig, ich zeige Bücher, die ich schon habe und was ich selber gern noch nachlesen oder anschauen möchte.
Alle fotografierten Bücher sind also selbstgekauft und keine Rezensionsexemplare.
Alle anderen Buchbilder sind Pressebilder der Verlage.
Der Fotograf von Mauthausen
Gregor Holzinger ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Er sprach bei der Tagung über Comics, in denen Mauthausen vorkommt.
Die Graphic Novel ” der Fotograf von Mauthausen ist in engem Austausch mit der Gedenkstätte entstanden. Gregor Holziger schreibt auch im Nachwort des Buches.
Das Buch ist von Aintzane Landa, Pedro J. Colombo und Salva Rubio gemacht. Aus dem Französischen übersetzt von Milena Merkač.
“Wie 7.000 seiner republikanischen Genossen wurde der katalanische Photograph Francisco Boix von den Nationalsozialisten ins Lager Mauthausen deportiert. Zu Beginn ist er nur daran interessiert, diesen wahrhaftigen Alptraum irgendwie zu überleben. (…)Während seiner fünfjährigen Lagerhaft konnte Boix zehntausende Negative aus dem Lager schmuggeln. (…) Nach der Befreiung sagte Boix als einziger spanischer Zeuge bei den Nürnberger Prozessen aus. Seine Aufnahmen wurden zur Verurteilung der Täter sowohl bei den Dachauer Prozessen als auch in Nürnberg herangezogen.” Bahoe books
Maus von Art Spiegelmann
Art Spiegelman für Maus als erster Comic-Autor überhaupt mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Es ist 1989 das erste mal übersetzt auf Deutsch erschienen.
“Als der erste Teil von “Maus – Die Geschichte eines Überlebenden” des US-amerikanischen Comickünstlers Art Spiegelman 1989 in Deutschland erschien, begegneten viele diesem “Holocaustcomic” mit Vorurteilen und Ressentiments. Die Debatte drehte sich um die Frage: Darf man den Holocaust im Comic darstellen?”Martin Frenzel, bpb
Originaltitel: Maus. A Survivor’s Tale. “Die Geschichte von Maus veränderte über Nacht die Geschichte des Comic Strips – aus Kult wurde Kunst. Berichtet wird die authentische Lebensgeschichte des polnischen Juden Wladek Spiegelman. In Queens, New York, schildert er seinem Sohn die Stationen seines Lebens: Polen und Auschwitz, Stockholm und New York, er erzählt von der Rettung und vom Fluch des Überlebens. Art Spiegelman hat diese Geschichte aufgezeichnet, indem er das Unaussprechliche Tieren in dem Mund legt: Die Juden sind Mäuse, die Deutschen Katzen.” Fischer Verlag
Japanisch-Amerikanische Internierung
Marie Dücker ist PostDoc Uni-Assistentin in Graz für Amerikanistik und sie hat bei der Tagung über die Internierung von japanischstämmigen Amerikaner*innen während des Zweiten Weltkrieges gesprochen. Sie hat zwei Graphic Novels zu dem Thema vorgestellt.
Citizen 13660 von Miné Okubo
“Miné Okubo war eine von über hunderttausend Menschen japanischer Abstammung – fast zwei Drittel von ihnen waren amerikanische Staatsbürger -, die kurz nach Pearl Harbor in “Schutzhaft” genommen wurden. Citizen 13660, Okubos grafische Memoiren über das Leben in den Umsiedlungszentren in Kalifornien und Utah, beleuchtet diese Erfahrung mit ergreifenden Illustrationen und witzigen, offenen Texten.”University of Washington Press
They called us enemy – eine Kindheit im Internierungslager
George Takei kann man aus Star Trek kennen, wenn man Raumschiff Enterprise geschaut hat. In dieser Graphic Novel schildert der Schauspieler und Aktivist George Takei seine Erlebnisse in den Internierungslagern, die von den USA im 2. Weltkrieg für den Teil der Bevölkerung mit japanischen Wurzeln eingerichtet wurden.
“Die Graphic Novel, kreiert von Takei und den Co-Autoren Justin Eisinger, Steven Scott sowie Zeichnerin Harmony Becker, liefert Antworten zu Fragen, die gerade im heutigen Amerika, geprägt durch neu aufflammende Konflikte innerhalb der Gesellschaft und mit anderen Nationen, wichtiger sind denn je: Was ist ein US-Amerikaner? Wer entscheidet das?”cross-cult
In der Netflix Serie “Never have I ever” taucht in Staffel 2 in einer Familiengeschichte – Paxton erfährt davon durch seinen Opa – ebenfalls die Internierung der japanischstämmigen Amerikaner*innen auf.
Trina Robbins über Lily Renée
Trina Robbins, geboren 1938, New Yorkerin und bei der Tagung via zoom im Talk, ist ehemalige Underground-Comiczeichnerin und heutige Comic-Heldin. Sie schreibt seit a. 50 Jahren Graphic Novels, Bücher und Comics, von denen sich viele mit jüdischen Themen befassen. Sie hat eine Biografie der Holocaust-Überlebenden und Comiczeichnerin von “Señorita Rio” Lily Renee gezeichnet. Es ist bei Lerner Books erschienen.
Lily Renée – 1921 in Wien geboren – war eine amerikanische Zeichnerin und Illustratorin. Mit ihrer Arbeit für Fiction House trug sie in den 1940er-Jahren zum sogenannten Goldenen Zeitalter des Superheldinnencomic bei. Ihre Gestaltung von Figuren wie Señorita Rio fand Eingang in die Geschichtsschreibung des Comics. In Europa wurde Lily Renée spät gewürdigt – eine Ausstellung in Wien, von wo sie per Kindertransport entkommen war, zeigte 2019 einen Einblick in ihr Schaffen und war auch in den USA zu sehen. wiki
Babes in arms: women in the comics during the second world war
“Nicht alle jüdischen Frauen zeichneten Comix, die bewusst jüdische Inhalte hatten. Meine Comix aus den frühen 1970ern sind feministisch und meist voller Wut auf die Männergesellschaft, ob nun im Underground oder etabliert. Während meiner ganzen Zeit als Underground-Zeichnerin produzierte ich nur zwei “jüdische” Comics.” Trina Robbins
Ein Artikel von ihr ist im Migrazine erschienen. Eine unbedingte Leseempfehlung!
Popkultur-Historikerin Trina Robbins versammelt in “Babys in arms” Comic-Geschichten der Künstlerinnen Barbara Hall, Jill Elgin, Lilly Renee und Fran Hopper zusammen mit Kommentaren und vielen dokumentarischen Extras. Das Buch dokumentiert die Arbeit dieser wichtigen Künstlerinnen.
Mehr zu “Señorita Rio”
Mehr über Lily Renée www.timesofisrael.com
Comics zu Anne Frank
Anne Frank starb nach ihrer Zeit in einem Amsterdamer Versteck, im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Über Anne Frank und die Tagebücher erscheinen immer wieder Comics, “Anne Frank im Comic” – eine Sammlung dazu – hat Ralf Palandt herausgegeben. Er sprach darüber bei der Tagung.
Einen sehr wichtigen Punkt, wie ich finde, sprach der Sammler, Forscher und Zeichner Ralf Palandt auch an:
Geschichtscomics sind immer eine Interpretation der Geschichte durch die Künstler*innen.
Es gibt also Adaptionen und Veränderungen durch Zeichner*innen.
Unbedingt Anschauen!! Die animierten Doku: His Name Is My Name
Die niederländische Filmemacherin Eline Jongsma wuchs in Unwissen darüber auf, dass ihr Urgroßvater ein von den Nazis unterstützter Bürgermeister war, der für seine Gewalttätigkeit bekannt war.
Er war als “Gekke Gerrit” (“Verrückter Gerrit”) bekannt und wurde nach dem Krieg aus der Familiengeschichte gestrichen. “Er war ein Judenjäger und ein Mitglied der niederländischen SS – und er war auch mein Urgroßvater.”
In der animierten Instagram-Dokumentationsserie “His Name Is My Name” decken Eline Jongsma und ihr Partner Kel O’Neill einen verschwiegenen Teil der Familiengeschichte auf.
www.instagram.com/hisnamemyname
Graphic Novel aus Österreich: INSEKTEN
Über ihre Familiengeschichte schreiben auch Leopold Maurer und Regina Hofer, sie haben Gespräche mit Maurers Großvater aufgenommen und erzählen die Geschichte eines bekennenden, reulosen Nazis. “Der alte Mann redete gern über den Krieg und erzählte: wie das alles begonnen hatte, wie jeder begeistert war, bis wir angefangen haben zu verlieren. Er war Soldat in der Division „Das Reich“, machte Dienst im SS-Regiment „Der Führer“, das (…) an zahlreichen Kriegsverbrechen beteiligt war. Dreimal war er in Russland, er war in Belgien, in Frankreich, in Ungarn, in der Ukraine. Seine Division war bei Kiew stationiert, als beim Massaker von Babyn Jar über 33.000 Juden ermordet wurden, und 1944 wurde es an die Invasionsfront in der Normandie versetzt.” Luftschacht
Ich möchte dazu anmerken, das die Autor*innen rassistische Sprache und Schimpfworte aus dem Mund des Großvaters, die diskriminierte Gruppen bezeichnen, ins Buch und unkommentiert in ihre Lesung, übernommen haben. Der Autor las das N-Wort vor und die österreichische Beleidigung für Menschen aus dem Balkan oder der Türkei. Ich vermute, dass es ums Zitieren geht, aber andererseits: Wozu Sprache von Rassisten reproduzieren, wo auch ohne dies total klar wird, wer und wie der Großvater war?
Widerstand gendern – Alma M. Karlin
Graphic Novels und Comics als Biografien gibt es schon viele. Dr. Kalina Kupczynska stellte eine Biografie über die queere, slowenische Schriftstellerin Alma M. Karlin vor. Sie sprach über die letzten Kapitel der Biografie von Alma M. Karlin, den Zweiten Weltkrieg, vor dem Hintergrund ihres turbulenten Frauenlebens. Wie wird gegenderter Widerstand im Medium Comic dargestellt? Kalina Kupczynska wies auch auf die Eurozentrik und kolonialistische Schreibe von Alma M. Karlin hin.
“Alma M. Karlin, Feministin, Autorin und Partisanin, wurde 1889 als Österreicherin im untersteirischen Celje geboren, sie starb 1950 in Pečovnik bei Celje als jugoslawische Staatsbürgerin. Zwischen diesen dürren biographischen Eckdaten liegen, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn, Welten: für die slowenisch-steirische Stadt Celje zwei Weltkriege und mehrere Systemwechsel; für Alma Karlin Lehrjahre in England und Norwegen, und eine fast zehnjährige Weltreise, die sie in den 1920ern Jahren nach Ostasien und auf die Inseln der Südsee brachte.”Bahoe books
Aber ich lebe – Vier Kinder überleben den Holocaust
2022 sind die Geschichten von vier Überlebenden in der Comicanthologie ‚But I Live/Aber ich lebe‘ erschienen. Bei der Tagung “NS-Comics” bei der Kunstuni Linz sprachen die Historikerin Prof. Dr. Andrea Löw (Institut für Zeitgeschichte) und die Medienwis- senschaftlerin Dr. Véronique Sina (Goethe-Universität Frankfurt) über das internationale Projekt.
Ich liebe die Illustrationen und Bücher von Barbara Yelin und wenn nicht die Pandemie dazwischen gekommen wäre, hätte ich 2020 an einer Masterclass mit ihr in München teilnehmen dürfen.
Emmie Arbel überlebte als kleines Mädchen die Konzentrationslager Ravensbrück und Bergen-Belsen. David Schaffer entkam dem Genozid in Transnistrien, weil er sich nicht an die Regeln hielt. Die Brüder Nico und Rolf Kamp versteckten sich in den Niederlanden dreizehn Mal vor ihren Mördern. Zusammen mit den Überlebenden haben drei international bekannte Zeichner*innen deren Geschichten in Graphic Novels erzählt, die unvergesslich vor Augen führen, was der Holocaust für Kinder bedeutete. C.H. Beck
Mein Highlight der Tagung war der Vortrag von Christine Gundermann
Christine Gundermann ist Professorin für Public History an der Universität Köln. In ihrer Forschung konzentriert sie sich auf die Theoretisierung der Public History, einer neuen Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, außerschulischem historischen Lernen und (digitalen) Formen populärer Geschichte.
Im Bereich der Comicforschung sind ihr Thema Geschichtscomics, die sich mit der Zeitgeschichte auseinandersetzen.
Was ich von Christine Gundermans Vortrag mitgenommen habe:
Seit über 20 Jahren werden Comics in der Vermittlung eingesetzt. Gedenkstätten vergeben auch Aufträge für Comics an Künstler:innen oder in Workshop machen Besucher*innen selber Comics über Geschichte. Es ist eine Aneignung von Geschichte: selber darüber erzählen. (Ich habe da sofort an mawils “Kinderland” gedacht.) Comics sind keine wissenschaftlichen Fachbücher, und den Anspruchsvollen sie auch gar nicht. Comics ersetzen keinen Text.
Wichtigen Fragen für Comics über Zeitgeschichte sind:
Welche und wessen Geschichten werden erzählt? Über “große” weiße Männer (= Personalisierung von Geschichte) oder über marginalisiert Gruppen, Frauen, queere Menschen? Über Gruppen die in der Geschichtsschreibung “namenlos/stumm” sind?
Was sind die Quellen? Eine Person, mehrere Personen (Mehrstimmigkeit), Archive, etc.
Aus wessen Perspektive wird hier erzählt?
Hat diese Geschichte exemplarische Bedeutung?
Ein Beispiel: nimmt man als Referenzmaterial für Comics über die Zeit des NS-Regimes Fotos von nationalsozialistischen Auftraggebenden oder Fotografierenden, reproduziert man damit die Täterperspektive. Auch eine bestimmt Bildsprache steckt in diesen Quellen, z.B. wie Nazi-Architektur fotografiert wurde. Das sollte der Zeichner*in bewußt sein, wenn man von diesen Quellen illustriert. Diese Bildquellen stellen nämlich nicht die Perspektive der Opfer dar.
Ich habe für meine Geschichte über Schloss Hartheim und Ida Maly auch Referenzfotos benutzt. Von einem ist die fotografierende Person unbekannt. Man sieht das Schloss vom Dorf aus, weiter weg, es könnte von Dorfbewohner*in sein, es könnte aber genauso von einem Täter, einer Täterin sein. Es ist nicht die Perspektive der Opfer, die in Bussen mit undurchsichtigen Scheiben ankamen, sie konnten das Schloss so vermutlich nicht sehen. Gleichzeitig ist es aber auch eine Blickwinkel, den man heute als Besucher*in oder Bewohner*in einnehmen kann.
Christine Gundermann nimmt bei der Tagung auch kurz Bezug auf Emmie Arbel, deren Geschichte von Barbara Yelin in “Aber ich lebe” exemplarisch für die Opfer des Nazi-Terrors erzählt wird.
Die Personifizierung sorgt für Empathie bei den Leser*innen, dieses Mittel ist also ein guter Zugang zu Geschichte. Das Buch beinhaltet ja die Geschichte von 4 Menschen, die damals Kinder waren. Das Buch ist ganz toll. Und der großartige Illustrator Gilad Seliktar ist eine Neuentdeckung für mich.
In diesem Sinne hoffe ich, dass ihr in diesem Artikel Graphic Novels und Comiczeichner*innen für euch entdecken konntet.